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"Wir sind Europa" – Die Europäische Jugendkampagne (1951-1958) und die Rolle der Jugend im Prozess der Europäischen Integration

Posted on 16 April 2013

Christina Norwig and Dieter Schlenker

Während ihres Forschungsaufenthalts zur Geschichte der Europäischen Jugendkampagne 1951-1958 im Historischen Archiv der Europäischen Union in Florenz, Italien, sprach die Doktorandin aus Göttingen Christina Norwig über die Schlüsselrolle der Jugend im Prozess der europäischen Integration und den wichtigen politischen Willen der Europäischen Union zur Jugendförderung.  

Frau Norwig, Sie schreiben eine Dissertation über die Geschichte der Europäischen Jugendkampagne 1951-1958. Woher rührt Ihr Interesse an diesem Thema?

Christina Norwig: Ein persönliches Interesse ist wichtig, wenn man eine Doktorarbeit schreibt. Ich habe schon während der Schulzeit gerne an Austauschen teilgenommen, und es hat mich interessiert, Kontakte ins Ausland zu haben und andere Menschen kennenzulernen. Während des Studiums bin ich AEGEE, dem Forum Europäischer Studierender, beigetreten.  AEGEE hat verschiedene thematische Arbeitsgruppen,  organsiert Treffen und nimmt auch Einfluss auf aktuelle europäische Themen. Das Motto unserer Gruppe war: „Wir sind Europa“. Wir waren der Meinung, dass Europa von den Bürgern gemacht werden muss und jeder seinen Teil dazu beitragen kann. Das hat mir imponiert. Nach dem Studium fing ich dann an, bei ‚Jugend für Europa‘, der deutschen Agentur des EU-Programms ‚ Jugend in  Aktion‘, zu arbeiten, das europäische Jugendarbeit fördert.

Ich fing dann an, mich für die Geschichte der internationalen Jugendarbeit zu interessieren und dachte, dass Jugendliche, die direkt nach dem Krieg ins Ausland gereist sind, komplett andere Erfahrungen gemacht haben müssen als Jugendliche, die heutzutage einen Europäischen Freiwilligendienst machen oder an einer Jugendbegegnung teilnehmen. Mich interessierten die Motivation dieser Jugendlichen und ihre Erfahrungen im Ausland, zum Beispiel junger Deutscher, die kurz nach dem Krieg nach Frankreich reisten. Darauf fing ich an zu recherchieren, was es in der Nachkriegszeit an internationalen Jugendbewegungen gab und bin über einen Artikel von Jean-Marie Palayret (vormaliger Direktor des Historischen Archivs der Europäischen Union in Florenz) auf die ‚Europäische Jugendkampagne‘ der Europäischen Bewegung aus den 1950er Jahren gestoßen. Auf seinen Hinweis hin, dass das Historische Archiv der Europäischen Union in Florenz enorme Archivbestände zu dem Thema habe, wurde dies mein Promotionsthema.

Wo liegen die Ursprünge der europäischen Jugendbewegung?

Christina Norwig: Da muss man in die Zwischenkriegszeit oder sogar noch vor den ersten Weltkrieg zurückgehen. Die traditionellen Jugendbewegungen, wie die deutsche Jugendbewegung oder die Pfadfinder, hatten schon damals Kontakte ins Ausland und organisierten internationale Großlager wie die Weltpfadfindertreffen. Auch größere sozialistische Organisationen wie die ‘International Union of Socialist Youth‘ hatten schon große internationale Lager organsiert. An solche Traditionen und Praktiken knüpfte die Europabewegung, die Jugendbewegung der Nachkriegszeit, an.

In der Zeit nach dem II. Weltkrieg haben sich dann viele neue Organisationen gegründet, die gezielt zum Thema Europa arbeiteten und die die Gründung eines vereinten Europas zum Ziel hatten. Auch unter der unorganisierten Jugend herrschte unglaubliche Reisefreudigkeit. Jugendliche sind per Anhalter gereist, mit dem Fahrrad, zu Fuß ohne Pass über die grüne Grenze und hatten ein unglaubliches Interesse daran, Jugendliche in anderen Ländern kennenzulernen. Und sie hatten ein großes Interesse an Versöhnung und Frieden. Europa stand damals für Frieden, für die Überwindung des Nationalstaats und für eine bessere ökonomische Zukunft.

Die Kriegserfahrung und die Erfahrung der schwierigen Nachkriegszeit hat bestimmt eine große Rolle gespielt. In den Archivquellen äußern zahlreiche ältere Jugendliche, dass sie den Krieg erlebt haben und deswegen der Meinung sind, dass jetzt Europa gebaut werden müsse.

War in der Jugendbewegung der deutsch-französische Aussöhnungsgedanke vorherrschend oder gab es eine gesamteuropäische Bewegung?

Christina Norwig: In den Archivquellen zur Europäischen Jugendkampagne ist der Aspekt, dass man ein ökonomisch vereintes Europa braucht, um aus der Misere zu kommen, der wichtigste. Der Versöhnungsgedanke war, soweit ich das sehen kann, vor allem bei deutschen Jugendlichen wichtig, während Jugendliche anderer Nationen zwar Vorbehalte gegenüber deutschen Jugendlichen hatten aber bereit zur Annäherung waren. Die verschiedenen Motivationen, wie Versöhnung, politisches Europa, ökonomisches Europa, hingen von der jeweiligen Gruppe und den Individuen ab.

Bald kristallisierte sich sicher auch eine starke westeuropäische Orientierung heraus?

Christina Norwig: An der Europäischen Jugendkampagne waren mehr als 15 europäische Länder in unterschiedlichem Maße beteiligt. Deutschland, Frankreich und Italien waren sicherlich die aktivsten Länder, auch die Beneluxländer waren sehr aktiv. Interessanterweise war auch die Türkei dabei. In den Archivquellen wird die Türkei ganz selbstverständlich als europäisches Land und zur europäischen Kultur zugehörig dargestellt. Das kommt wahrscheinlich noch aus der Rhetorik des Marshallplans, der auch die Türkei mit einbezogen hatte.

Im Blick auf Osteuropa herrschte zunächst unter vielen Akteuren die Meinung, dass man diese Länder noch für das demokratische Europa gewinnen könne und diese natürlicherweise zu Europa gehörten. Aber der Kalte Krieg war sicherlich ein sehr wichtiger Faktor für europäische Integration, auch auf lokaler Ebene.

Die Ursprünge der Europäischen Jugendkampagne, über die ich forsche, sind wohl im Kalten Krieg zu verorten. Die internationalen Jugendfestspiele in Ostberlin 1951 sorgten unter westeuropäischen und US-amerikanischen Akteuren für Unruhe. Daraufhin wurde in Zusammenarbeit mit der ‚Europäischen Bewegung‘ der Grundstein für die ‚Europäische Jugendkampagne‘ gelegt. Die Kampagne wurde von einem US-amerikanischen Verein, dem ‚American Comittee  on United Europe‘, finanziert. Dessen Mitglieder waren fast alle US-amerikanische Geheimdienstmitarbeiter. Ohne die Finanzierung der USA hätte die Kampagne nicht funktionieren können.

Wie hat sich die Jugendbewegung in den folgenden Jahren weiterentwickelt?

Christina Norwig: Ein Ereignis, auf das sich viele Organisationen, besonders die Jungen Europäischen Föderalisten, beziehen, ist die erste Grenzstürmung 1950 an der deutsch-französischen Grenze. Damals haben deutsche und französische Studenten die Grenze gestürmt, Grenzschranken durchgesägt und verbrannt und an deren Stelle Europa-Schilder aufgestellt. Diese Aktion war zwar wesentlich von ‚Erwachsenen‘ dirigiert worden – auch der amerikanische Verein hatte Geld hinzugeschossen – aber viele Jugendliche hatten daran teilgenommen, und die verschiedenen Bewegungen haben darauf später immer wieder Bezug genommen.

Ein anderes Großereignis war, ebenfalls 1950, eine Demonstration von 3000 Jugendlichen vor dem Europarat in Straßburg, auf der eine schnellere europäische Integration gefordert wurde. Auch das Loreley-Camp von 1951, das von der damaligen französischen Besatzung unter Leitung von Jean Moreau, dem späteren Leiter der Europäischen Jugendkampagne, initiiert worden war, erregte europaweit Aufsehen. Am Wichtigsten waren aber meines Erachtens die vielen persönlichen Kontakte, die die Bewegung prägten.

Als Meilensteine könnte man dann noch die Gründungen des Europäischen Jugendforums und der ‚European Youth Foundation‘ in den 1970er Jahren nennen und in den 1980er Jahren die Einrichtung des ersten ‚Jugend für Europa‘ Programms der EU (1988). Diese Einrichtungen haben auch ein Finanzierungsgerüst geschaffen, um gezielt europäische Jugendarbeit zu unterstützen.

Gab es Schwächephasen in der Europäischen Jugendbewegung?

Christina Norwig: Schon in den 1950er Jahren gab es immer wieder Spannungen zwischen den Organisatoren und den Jugendlichen, die sehr misstrauisch waren gegenüber jeglicher Einflussnahme von Erwachsenen und nicht für deren politische Ziele in Anspruch genommen werden wollten. Das war besonders deutlich, als die Europäische Jugendkampagne zwischen 1952 und 1954 für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft geworben hatte. Viele Jugendverbände  waren dazu sehr kritisch. Als die Pläne schließlich gescheitert waren, bedeutete dies einen schweren Rückschlag für die europäische Jugendbewegung und für die Kampagne. Die Kampagne hatte sich erhofft, dass mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sich graduell die Kompetenzen Europas auf andere Politikbereiche ausweiten würden und mit der Zeit eine wahre europäische supranationale Gemeinschaft entstanden wäre.

Ein anderer Rückschlag war dann die lange Durststrecke nach dem Ende der Kampagne 1958, als es keine Fördermöglichkeiten von Seiten der europäischen Institutionen für europäische Jugendarbeit mehr gab. Die USA hatte die Jugendbewegung nach dem II. Weltkrieg unter dem Druck des Kalten Krieges wesentlich finanziert.

1958 stellten die USA die finanzielle Förderung der Europäischen Jugendkampagne ein. Der offizielle Grund war, dass Europa nun eigene Institutionen hatte und diese die Jugendarbeit weiter fördern sollten. Aber als die Amerikaner die Finanzierung einstellten, waren die neugegründeten europäischen Institutionen nicht in der Lage, die Finanzierung von europäischen Jugendprojekten zu übernehmen. Trotz personeller Kontinuitäten mit Jean Moreau, dem ersten Direktor der Kampagne, und Fausta Deshormes, einer weiteren Organisatorin der Kampagne, die beide später für die europäische Kommission arbeiteten und an der Gründung des europäischen Jugendforums beteiligt waren. Es dauerte jedoch bis 1988, als das erste ‚Jugend für Europa‘ Programm ins Leben gerufen wurde.

Wie steht die europäische Jugendbewegung zur derzeitigen Krise in Europa?

Christina Norwig: Es hängt davon ab, welche Europaerfahrung die Jugendlichen haben. Von vielen Menschen wird Europa mehr und mehr negativ wahrgenommen, und die EU wird mit den Sparmaßnahmen in Verbindung gesetzt. Sehr gefährlich im Krisendiskurs ist das Wiederaufkommen von Vorurteilen und Stereotypen, von denen man glaubte, sie seien nicht mehr vorhanden. Das ist sehr bedenklich. Es ist deshalb wünschenswert, dass weiterhin europäische Jugendprojekte gefördert werden. Die persönliche Auslandserfahrung und das Kennenlernen von Menschen aus anderen Ländern helfen solche Vorurteile zu überwinden. Ich glaube, dass vor allem junge Menschen sehr mobil sind und sich dies in Zukunft noch intensivieren wird.

In der Krise fordern die Jugendverbände Solidarität unter der europäischen Jugend. Das europäische Jugendforum und andere Verbände haben sich derzeit als Rahmenthemen die Jugendarbeitslosigkeit und Jugend in der Krise gesetzt.

Wie sieht die europäische Jugendbewegung der Zukunft aus?

Christina Norwig: Ich bin optimistisch, dass mehr und mehr Jugendliche aktiv sein werden. Ich hoffe auch, dass sich die Jugend weiterhin für mehr Demokratie und vor allem mehr direkte Demokratie in Europa einsetzen wird.

Dieses Jahr läuft das EU-Programm ‚Jugend  in Aktion‘ aus, und es wird kein Nachfolgeprogramm mehr geben, das sich nur auf nichtformale Jugendarbeit konzentriert. Es wird lediglich ein großes Programm geben, das die vorherigen Programme Erasmus, Sokrates, Leonardo, usw. zusammenfasst.

Das neue Programm sollte sich nicht nur auf Hochschulbildung und schulische Bildung konzentrieren, sondern auch Jugendliche, die nicht den höheren Bildungsweg beschreiten, einbeziehen. Es ist wichtig, dass alle Jugendlichen erreicht werden, damit Vorurteile abgebaut werden und ein europäisches Bewusstsein gefördert wird.

Das Interview wurde von Dieter Schlenker, Direktor des Historischen Archivs der Europäischen Union in Florenz geführt.

Link zu den Beständen pro-Europäischer Jugendbewegungen

 

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